Inhaltsverzeichnis
- Das Geheimnis der ungeteilten Aufmerksamkeit
- Die Schwäne: Prowestliche mediale Opposition
- Naive Fragen – klare Antworten
- Schneidender Sarkasmus
- Gefangenen-Interviews
- Feindsender „Gordon“
- Die Hechte: Westkritische Opposition pro Krieg
- Burgfrieden und „völkischer“ Krieg
- Imperiale Erblast
- Die Krebse: Westkritische Opposition contra Krieg
- Eingeplanter Kollaps
- Schwab in Russland
- Geopolitik vs. Demographie
- Polarität aus Verdrängung
Heimat- und friedliebende Völker aller Länder, erkennt eure gemeinsamen Interessen und stoppt die Lebenszerstörer! Bloß, wie kann man sich zusammenfinden? Und wer in Russland versteht diesen Aufruf so wie wir? Doch wohl in erster Linie diejenigen, die die Komplexität der Bedrohungen von innen und außen erkannt haben, also im Widerstand gegen das System sind, das ohne demokratische Legitimation die globalen Agenden gegen die Völker vorantreibt, egal unter welcher Flagge. Anhand der Frage nach der Beurteilung der „Spezialoperation“ gegen die Ukraine lassen sich drei Ausrichtungen von politisch Widerständigen feststellen, die an die Protagonisten in Krylows Fabel erinnern.
Die Sanktionen von außen und die Repression von innen führen dazu, dass wir über das Mengenverhältnis zwischen Machtkonformen und Machtkritischen nur mutmaßen können. Um sich und Angehörige nicht zu gefährden, hält man sich selbst in der elektronischen Kommunikation zurück. Anfang April 2023 befürwortete die Duma eine Gesetzesänderung, die „lebenslang“ für „Verrat des Staates“ vorsieht. Darunter können alle Kontakte mit Menschen aus „nicht-freundlichen“ Staaten fallen. Es werden drakonische Gefängnisstrafen für Meinungsdelikte verhängt – im Vergleich zu uns im modernen Russland eine relativ neue Abschreckungsmaßnahme. Der Moskauer Rentner Michail Simonow etwa wurde zu sieben Jahren Straflager verurteilt für zwei Kommentare in „VKontakte“: „Während wir Kinder und Frauen töten, singen wir auf dem Ersten Kanal Lieder. Wir, Russland, wurden gottlos. Verzeih uns, Herr!“ und „Russische Flieger bombardieren Kinder.“ Dem Petersburger Oleg Beloussow reichte ein Wort für 5,5 Jahre: „Putler“. Auffällig ist der hohe Anteil verurteilter Frauen. Auf etlichen Videos werden Szenen von Selbstjustiz gezeigt, wie etwa eine Rentnerin, die sich negativ zur Armee äußerte, von den Passagieren an den Haaren aus dem Bus geschleift wird.
Deutet die zunehmende Verrohung auf eine stabile Mehrheit der Machtkonformen im Land, die keine Zweifel an der Gerechtigkeit des Krieges dulden? Darf sich die kleine Minderheit der Aufmüpfigen ihrer Verachtung durch die Mehrheit gewiß sein – so wie es den unsolidarischen Maßnahmenkritikern bei uns erging? „Verräter und Kollaborateure des Feindes verließen Russland, Patrioten waren keine Randgruppe mehr und ihre Positionen der selbstlosen Hingabe an das Vaterland wurden – zumindest nach außen hin – zum ethischen Mainstream“, resümiert der Philosoph Alexander Dugin auf Geopolitica.ru die Lage im Frühjahr 2023. Auf jeden Fall war die Gesellschaft noch nie so gespalten wie jetzt. Ein Jahr vor dem Frühling 2022 gaben vom Lewada-Zentrum Befragte an, ihre größte Furcht sei die vor der Rückkehr der Repressionen.
Zuverlässiger als Worte und Wahlen sind Abstimmungen mit den Beinen: Über eine Million erwerbsfähiger Russen hat das Land seit dem Februar 2022 verlassen, die meisten auf der Flucht vor der Einberufung. Russland verliert gerade diejenige Generation durch Flucht und Krieg, die auf das Geburtenminimum der 1990er Jahre zurückgeht. Und mit den Oberarmen wurde abgestimmt: Angesichts der weit verbreiteten Praxis, sich von der Covid-Behandlung freizukaufen, darf angenommen werden, dass etwas mehr als die Hälfte des Volkes der Impfnötigung widerstanden hat.
Da die Meisten die C-Plandemie also als Staatsterror einstuften: Kann man auf eine vergleichbare Ablehnung der Staatspropaganda in Bezug auf den Krieg schließen? Kaum. Die Zusammensetzung der Ablehner von „Impfung“ und Krieg dürfte verschieden sein. Das abrupte Abblasen der Pandemie mit dem Einmarsch in die Ukraine wird einerseits vielen die Augen geöffnet haben. Sie werden die „Maßnahmen“ mit knirschenden Zähnen mitgemacht haben, sind nun aber gegen den Bruderkrieg. Viele werden andererseits die WHO-Verschwörung abgelehnt haben, jetzt aber die Pflicht spüren, sich um den Anführer zu scharen und den von außen aufgedrängten Krieg „zur Rettung der Heimat“ zu unterstützen, zumal Baerbock und Co. betonen, daß man ganz Russland ruinieren will. Außerdem kommt der „Wissenschaftskult“ der Gebildeten zum Tragen: Wer „fortschrittlich“ denkt, ist über den ignoranten Plebs entsetzt, der die Segnungen der Medizin nicht würdigt. Entsprechend ist diese Gebildetenschicht pro Impfung, aber contra Kremlkriegsführung. Es gibt keine öffentlichen Foren und keine „Freien Russen“, die als Bürgerbewegung ähnlich den Freien Sachsen die Vielfalt der Argumente abbilden und sie überhaupt erst für den öffentlichen Raum schaffen. Die Machtkonformen wirken als Lautsprecher für die offizielle Wahrheit und spüren zersetzende Tendenzen auf, die letztlich dem Feind nützen oder direkt von ihm bezahlt sein sollen. Die Machtkritischen müssen sich in erster Linie vor den Denunzianten fürchten. IT-Kenntnisse sind unabdingbar, um den Standort zu vertuschen und gesperrte Plattformen zu erreichen.
Vor dem Einmarsch ließ sich die mediale Opposition in prowestlich und westkritisch unterteilen. Die mediale Basis der prowestlichen Ausrichtung ist stark eingeschränkt: Die seit 30 Jahren druckende Zeitung Nowaja Gaseta veröffentlicht weiter auf ihrer Homepage, aber seit dem März 2022 praktisch nicht mehr auf Papier. Das seit 32 Jahren sendende und Russlandweit am meisten zitierte Radio „Echo Moskwy“ wurde im März 2022 geschlossen. Die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ wurde bereits Ende 2021 liquidiert. Oppositionspolitiker wie Alexej Nawalny sitzen im Gefängnis oder schweigen. Ungehemmt kann diese Ausrichtung nur aus dem sicheren Ausland agieren.
In die westkritische Opposition trieb der Krieg einen Keil: Sie ist in Befürworter und Gegner des Krieges gepalten.
Es gibt also drei Gruppen im Widerstand, denen wir uns im Einzelnen widmen wollen.
Die Schwäne: Prowestliche mediale Opposition
Diese Ausrichtung irritiert uns damit, daß sie Rettung dort sucht, wo wir die Wurzel des Übels sehen: in der „westlichen Wertegemeinschaft“, in der Hexenküche für Regime-Changes allerorten, wo Ressourcen als zu kostbar erachtet werden, um sie vom Land verwalten zu lassen, das sie zufällig besitzt. Die meisten prowestlichen Machtkritiker interessieren sich – genau wie die „proöstlichen“ Machtkritiker hierzulande – dabei herzlich wenig für die echten Verhältnisse „drüben“, sondern benutzen das Andere als „Kontrastmittel“. So wie bei uns Putin etwa bei „Compact“ als vernünftiger Gegenpart zu den Kakistokraten in Berlin dargestellt wird, kann man am teddybärhaften Scholz gar nicht so viel Schlimmes finden, so daß der Agenten-Verdacht natürlich immer im Raum steht. Die Unschärfe im Außenblick wird durch den scharfen Innenblick kompensiert. Es gilt dasselbe wie für uns, daß man wegen der Sprachbarriere in anderen Ländern die Trennung in machtkonforme und machtkritische Sphären gar nicht bis sehr unzureichend wahrnimmt. Die Opposition im Ausland wird für den Russen nur dann sichtbar, wenn sie als kremlfreundlich dargestellt wird. Dies aber nur oberflächlich, denn auch die russischen Systemmedien sind Meister des Framings und geben ungern ihre Betriebsgeheimnisse preis.
Marina Owsjannikowa ist das prominenteste Beispiel. Kurz vor der sehr wahrscheinlichen Verurteilung zu zehn Jahren Gefängnis wegen ihres „No war“-Protests im Öffentlichen Fernsehen gelang ihr die Flucht aus dem Moskauer Hausarrest in den Westen. Hätten ihr die Franzosen dabei geholfen, wenn zu befürchten gewesen wäre, dass die dissidente Journalistin auch das westliche Herrschaftssystem hinterfragen würde? Die erstaunliche Leichtigkeit der Flucht läßt zumindest nachdenken: Kooperierten hier die scheinbar verfeindeten Regierungen, weil eine solche unipolare Kritikerin sowohl dem Westen als auch dem Osten vorteilhaft ist? Die Aufrechterhaltung des Schwarz-Weiß-Schemas ermöglicht die Verstetigung des Krieges.
Naive Fragen – klare Antworten
Mut beweist der Youtuber Daniil Orain mit seinem Kanal „1420“, auf dem er Passanten in Moskau und anderen Orten befragt. Dank der englischen Untertitel strahlt er mit 440.000 Abonnenten in die weite Welt hinaus. Die Passanten sind überwiegend offenherzig. Durch freundliches, aber bestimmtes Nachhaken entlockt Orain ihnen Aussagen, die ein Kaleidoskop der aktuellen russischen Seelenlage präsentieren. Der immer schon existierende Kontrast zwischen den Metropolen Moskau–Petersburg und dem Rest des Landes springt bei den Gesprächen ins Auge. In Petersburg überwiegen putinkritische Stimmen. Man erkennt die Angst in den Gesichtern, die aber vom Drang nach Mitteilung unterdrückt wird. In der Provinz dominieren die TV-Einheitsmeinungen und eine dezidierte politische Apathie vor allem bei den jungen Leuten. In Moskau gibt es die größte Vielfalt: Es überwiegen die machtkonformen Aussagen, die bei scheinbar naiven Fragen („Sollten wir nun in Polen eine Spezialoperation starten?“) Abgründe an Fanatismus offenbaren, die jeden Russophoben in seiner Weltsicht bestätigen. Angesichts der Narrenfreiheit bei der Verteidigung der Propaganda sind die Gegenstimmen stärker zu gewichten. Auch sieht man oft an der Körpersprache, daß das Gesagte nicht mit dem Gedachten übereinstimmt. Die Videos besitzen eine anrührende Atmosphäre, die wahrscheinlich auf die generelle Kommunikationsfreudigkeit der Russen zurückzuführen ist sowie auf das Gewahrwerden der existentiellen Gefahrenlage. „53 Länder gegen Russland. So etwas darf nicht sein!“, so eine Passantin.
Schneidender Sarkasmus
Die prowestlichen Machtkritiker benutzen Begriffe wie „Great Reset“ oder „Klaus Schwab“ nicht. Wohlwollend interpretiert steht dahinter „Ockhams Rasiermesser“, also das argumentative Sparsamkeitsprinzip, wonach eine These zu bevorzugen ist, wenn sie gegenüber komplexeren Thesen bereits ausreichend wahr scheint. Wozu in die Abgründe der westlichen Elitenforschung schweifen, wenn das Offensichtliche so nahe liegt? (Die Methode ist bei wissenschaftlich gebildeten Zeitgenossen beliebt und könnte die Anfälligkeit besonders dieser Schicht für Manipulation erklären. Das Antidot ist das konspirologische Denken mit dem Axiom: Alles ist möglich, auch das Unmögliche.
Mit Ockhamschem Minimalismus und filigranem Sarkasmus kommentiert der Youtuber Vitalij „Obmanutyj Rossijanin“ für 1,4 Millionen Abonnenten das Geschehen an und hinter der Front und gibt den Leidtragenden der Politik eine Stimme. So klagen Bewohner in Tschita über die steigenden Kosten für Heizwärme und Elektrizität – und darüber, daß ihr Wohnblock mit diesen Annehmlichkeiten der Zivilisation nicht versorgt wird …seit 1991. „Geduldet euch noch ein bisschen!“
Gebildete Russischsprecher in Russland und der Ukraine können ohne lokale Färbung sprechen, also unter dem Radar der Zuordnung zu einem Land bleiben. Für die Einwohner Russlands liegt es an der technischen Empfangsmöglichkeit (zum Beispiel via „VPN“) und der Risikobereitschaft, Feindsender zu konsumieren. Der in Leningrad geborene Publizist und Volksdeputat aus den 1990er Jahren Alexander Niewsorow zieht zwei Millionen Abonnenten auf Youtube an und ist durch seine kompromisslos proukrainische Einstellung bekannt.
Vor dem Krieg war das russisch-ukrainische Verhältnis zwischen den Menschen entspannt, wovon humorige gegenseitige Benennungen zeugen. Die Ukrainer waren „Ukropy“ (Dill), die Russen „Watniki“ (Watteträger). Einige Formate wie der ukrainische Kanal „Jurij Velikij“ (784.000) beharren auf dem Lachen auch angesichts der Tragödie. Beim Parodieren abgefangener Gespräche zwischen den Okkupanten/Befreiern und ihren Angehörigen wird vor allem der Kontrast zwischen den edlen Motiven der Staatspropanda und der geistigen und menschlichen Unreife ihrer Umsetzer herausgearbeitet.
Gefangenen-Interviews
Im Video des o.g. Kanals „Zu Besuch bei Zolkin“ spielt der Journalist Wolodymyr Zolkin mit, der mit seinem Partner Dmytro seit über einem Jahr Kriegsgefangenen-Interviews durchführt und ausstrahlt (1,34 Mio. Abonnenten). In aller Ernsthaftigkeit und Ausführlichkeit versucht der Kiewer Journalist, mit Hilfe seines Kanals Leben zu retten, indem er seine Abonnenten bittet, Geld für diejenigen ukrainischen Soldaten zu spenden, die ihre Gegner nicht liquidieren, sondern sie in Kriegsgefangenschaft nehmen. Ab 300 USD bekommen sie für einen russischen Soldaten. Mit den aufgezeichneten Videos der Gespräche gehen die Soldatenfrauen dann in die Wehrämter und versuchen, einen Austausch zu erwirken. Bis Mitte März 2023 wurden so nach Angaben des Kanals schon 100.000 Dollar gespendet. In einem Interview mit dem Kanal „Apostrof TV“ spricht Dmytro von sieben Gefangenen pro Tag, die nach Paritätsprinzip ausgetauscht werden, obwohl die gegnerische Seite auch Zivilisten gefangen nähme. Von russischer Seite ist kein entsprechendes Projekt bekannt. Die Beteiligten zeichnen sich durch konstruktive Kommunikation aus, die menschlich berührt – trotz der denkbar ungleichen Rollenverteilung und der Diskursdominanz der ukrainischen Sicht auf den Krieg. Man versucht, den Kriegsgegner argumentativ von seinem Irrtum zu überzeugen, indem man ihn die eigenen Motive rekapitulieren lässt. Mitgefühl erfährt zum Beispiel der Gefangene Anton im Video „Ona vyschla“. Die Überlebensperspektiven eines ausgetauschten russischen Soldaten sind allerdings nicht viel rosiger als in den Schützengräben, weil die Freiheit mit Aussagen gegen die herrschende Rhetorik erkauft wurde.
Feindsender „Gordon“
Eine immense Reichweite unter den unabhängigen Journalisten hat der Kiewer Dmitrij Gordon. Er betreibt auf Russisch mehrere Youtube-Kanäle, von denen die führenden 2,3 und 3,6 Millionen Abonnenten haben. Vor dem Einmarsch war Gordon Kritiker von Selenskij und der Bandera-Anhänger, nun stellt er sich ganz in den Dienst der Vaterlandsverteidigung und ist in Russland als „Extremist“ zur Fahndung ausgeschrieben. Mit seinem Intimfeind, dem Kreml-Journalisten Wladimir Solowjow, verbindet ihn die jüdische Herkunft. Gordon warb für die C-„Impfung“. Mitte März führte er ein Gespräch mit einer 19-Jährigen Freiwilligen aus Odessa, die nach kurzem Fronteinsatz ein Bein verlor. Jede Kriegspartei mag berührende Geschichten von Kindern und Frauen zur Propagandaverstärkung nutzen, aber dieser Krieg sieht ein Übergewicht an jungen Menschen auf der ukrainischen Seite, die für sich keinen anderen Weg als den der aktiven Verteidigung sehen. Außerdem führen in Russland vergleichbare Auftritte zur Anklage wegen „Diskreditierung der Russländischen Armee“. Der Kreml setzt ganz auf die Karte der sauberen „Operation“ mit vernachlässigbaren Opferzahlen, während die ukrainische Seite Ende März 170.000 gefallene russische Soldaten angibt. Einem russischen Soldaten wurde in Chabarowsk wegen eines Mordes an einem ukrainischen Zivilisten der Prozess gemacht. Er gestand, ihn im August 2022 verübt zu haben. Verurteilt wurde er aber wegen übler Nachrede gegen die Russländische Armee. Auch „Diskreditierung“ der privaten Wagner-Truppe führt nach Angabe von Kreml-Sprecher Peskow zu Strafen bis zu 6.200 Euro.
Diese und viele andere Fälle präsentiert der Telegram-Kanal ovdinfolive. Es mehren sich die Haftstrafen wegen Einträgen in sozialen Medien. Deswegen sind engagierte Russen mit dieser Ausrichtung nicht die idealen Freundschaftsanwärter für Friedensaktivisten aus dem Ausland, weil sie sich damit selbst gefährden.
Die Hechte: Westkritische Opposition pro Krieg
Während die prowestliche Ausrichtung Putin – abgesehen vom Krieg – für seinen nur vorgetäuschten Kampf gegen das Oligarchentum und den Abstieg Russlands bei Bildung, Gesundheit, Demographie und Mitbestimmung des Volkes ablehnt, sieht die westkritische Ausrichtung den Grund dafür nicht in zu wenig, sondern in zu viel Westen, also im Verrat am eigenen russischen Weg. Sie wirft der Regierung Pseudo-Opposition gegen den Globalismus bei immer stärkerer Erfüllung der WEF-Vorgaben vor. In Sachen „Verschwörungspraxis“ der weltweiten Mafia haben diese Menschen also eine große Schnittmenge zu den Aufgewachten bei uns. Die konservative Kritik analysiert den Westen sehr genau und mit historiographischer und oft philosophischer Tiefe. Deswegen ruft sie Sympathie bei westlichen Aufklärern hervor, heute und auch schon zu Zeiten Dostojewskis, Tolstois und sogar kommunistischer Vordenker.
Burgfrieden und „völkischer“ Krieg
Mit der Ukraine-Invasion setzte eine Art Burgfrieden für einen beträchtlichen Teil dieser Opposition ein, die nun zwar immer noch putinkritisch ist, aber für den Krieg gegen die Ukraine. Die Regierung wird nicht wegen des Kriegskurses kritisiert, sondern weil er nicht effizient genug sei. Die Vertreter dieser Ausrichtung genießen nolens volens den Bonus der Machtkonformität, die meisten Kanäle und Portale werden nicht gelöscht, was das Gesamtbild des Verhältnisses der Gruppen verzerrt. Bekanntester Vertreter ist der Eurasien-Ideologe Alexander Dugin. Anlässlich der Einnahme der Stadt Cherson im November 2022 durch die Ukrainer verlangte er den totalen, „völkischen“ Krieg. Nur so würde Russland eine Chance haben, sich der Vernichtungsabsicht des „satanischen Westens“ gegenüber Russland zu erwehren. Da in dieser Denkweise der Westen generell das Imperium der Verlogenheit ist und Russland bei all seiner byzantinischen Rückständigkeit die Rolle des Weltenretters zukommt, ist auch kein Eingehen auf Aufgeklärte zu erwarten, sobald sie in irgendwelchen Aspekten von den jeweiligen Standpunkten abweichen, denn der Zweck heiligt hier die Mittel. Bei RT Deutsch ist seine Analyse „Es wird keine Ukraine, kein Problem und keine Nazis mehr geben“ zu sehen, gemäß der Russland nun endlich die „multipolare Weltordnung“ errichte. Wer aus der westlichen Freiheitsbewegung auf diese Ausrichtung setzt, sollte damit rechnen, daß Abweichungen oder Widerspruch auf wenig Toleranz stoßen.
Imperiale Erblast
Informativ sind die Portale „Denj TV“ (1,6 Mio.) und „Kanal Stalingrad“. Letzterer wurde im Februar auf Youtube mit einer Million Abonnenten gelöscht. Sein Motto ist: „Wir werden siegen. Ohne Putin!“ Kritisch wird Deutschlands neuer „Drang nach Osten“ beobachtet. Herausragender Kenner der globalen Machtstrukturen und globaler Hintergrundpolitik ist der Historiker Andrej Furssow. Seit den ersten Stunden der „Spezialoperation“ legt er seine Hoffnungen in den Sieg der russischen Armee über „die Koalition der globalistischen Ökosatanisten“.
Den meisten Vertretern dieser Ausrichtung nimmt man ab, daß sie nicht aus Opportunismus handeln. Es ist eine Art fanatische Nüchternheit, womit sie den Ukrainern sowohl Staatlichkeit als auch Identität absprechen. Dahinter könnte das nicht aufgearbeitete Verhältnis zum russischen und sowjetischen Imperialismus stehen. Wie in den USA ist dieser Begriff für die Feinde vorbehalten, also negativ besetzt. (Eine Ausnahme machte „Putins Schatten“ Dmitrij Medwedew im März 2023, als er die Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland als Ergebnis der positiv bewerteten Expansion des Russischen Imperiums erklärte. Der Ex-Sitzpräsident, Liberale und Akademiker Medwedew ist seit Kriegsbeginn zuständig für die ausgesprochen volkstümlich-derbe Beschimpfung der Feinde und das Ankündigen der nuklearen Apokalypse.) Im Gegensatz zu den Inselimperien ist das russische Kernland auf Gedeih und Verderb mit seinen noch einverleibten oder ehemaligen Kolonien über Land verbunden. Kompromisse würden als Schwäche ausgelegt werden und zum Kollaps führen. Daraus folgt der Hang zur archaischen, barbarischen Kriegsführung, wie sie derzeit zu beobachten ist. Daher auch die Angst vor dem Dominoeffekt, wenn wichtige Bestandteile des Imperiums zum Feind übergehen. Der an sich als friedliebende und antisowjetisch bekannte Dichter Iossif Brodsky hatte in Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahr 1991 ein bitterböses Gedicht geschrieben, das den Auslöschungsphantasien der Kriegsbefürworter von heute in nichts nachsteht. Es endet mit den Zeilen: „Im Sterben werdet ihr, den Matratzenrand zerkratzend, Alexanders Zeilen röcheln, nicht das Erstunkene von Tarass.“ (Gemeint sind die Nationaldichter A. Puschkin und T. Schewtschenko.) Wie beim Islam folgt auf Abtrünnigkeit die Höchststrafe. Vielleicht nicht obwohl, sondern weil das russisch-sowjetische Imperium mit solch universalistischen Idealen des Zusammenlebens der Völker operierte.
Das Verhältnis zu China wird oft diskutiert. Es birgt große Erwartungen und ebenso große Befürchtungen. Im Februar stellte das chinesische Innenministerium eine historische Karte ins Netz, die das vom Russischen Reich und der Sowjetunion eroberte Territorium mit chinesischen Namen zeigt. Es handelt sich um 1,7 Millionen Quadratkilometer.
Die Krebse: Westkritische Opposition contra Krieg
Mit dieser Gruppe dürfen wir die größte Annäherung erwarten, aber sie ist für Nicht-Russischsprecher schwer zu greifen. Hinter ihr stehen keine Lobbygruppen und sie bemächtigt sich meist der metapolitischen Mimikry. Es geht überwiegend um Gesundheit, Astrologie, Literatur, Häkeln, Gartenbau und andere unverfängliche Themen, in denen politische Botschaften versteckt sind. Der Historiker und Astrologe Pawel Globa ist ein Meister dieses „Äsopismus“. Das Russische bietet dafür ein jahrhundertelang erprobtes Arsenal an Ausdrucksnuancen, die in der Übersetzung zu Mißverständnissen führen.
Eingeplanter Kollaps
Analytischen Tiefenblick mit enzyklopädischer Übersicht verknüpft der in Russland lebende Blogger Anatolij Niesmijan, der bei Telegram 90.000 Abonnenten hat und die Leser außerdem mit einer ausgefeilten Stilistik verwöhnt. Er hat sieben Bücher veröffentlicht und liefert seit vielen Jahren mehrmals täglich Einschätzungen. Ende März 2023 kündigte er an, Beiträge nach einem Monat automatisch löschen zu lassen, um es dem Denunziantentum vor allem gegenüber den Lesern etwas schwerer zu machen. Dazu schreibt er: „Bereits 2016 schrieb ich, daß Russland in ein katastrophales Szenario rollt, aus dem es nicht mehr anders herauskommen kann als durch den Zusammenbruch des Regimes. Und heute bin ich absolut davon überzeugt, da die Entwicklung vollständig in die Modelle passt, die für jeden katastrophalen Prozeß charakteristisch sind. Im Jahr 2018 schrieb und sprach ich davon, daß das Regime gezwungen sein wird, eines der beiden möglichen Szenarien zu wählen: Entweder äußere Aggression oder inneren Terror bzw. eine kohärente Kombination dieser beiden Handlungsweisen.“ Nachdem Ende März ein abgefangenes Telefongespräch zwischen dem Oligarchen Achmedow und dem Musikproduzenten Prigoschin veröffentlicht wurde, die den Ukrainekrieg als Sargnagel für das Regime beurteilen, erklärte Niesmijan: „Diese Leute sind vom Regime getätschelt worden und verdanken ihre bescheidenen Mittel ausnahmslos durch den Dienst an diesem Regime ohne überflüssige Worte.“
Schwab in Russland
Der bulgarische Biologe und Präsidentschaftskandidat Plamen Paskow hat unter russischsprachigen Widerständlern hohes Ansehen. Auf der Seite Anna-news.info findet sich ein Interview mit dem Titel „Die Eliten entscheiden, wie viel Vieh sie benötigen. Wir sind für sie Vieh.“ Aus Italien sendet Jekaterina Kowalenko (330.000 bei YT). Mit dem Wirtschaftler Valentin Katassonow führte sie ein Gespräch mit dem Titel „Apokalypse. Gedulden müssen wir uns noch 3,5 Jahre.“ In ihm werden die für die russische Intelligenzija seit Dostojewski typischen Bezüge zur Johannesoffenbarung, zur russischen Philosophie und oft prophetischen Literatur hergestellt. Der „russische Jules Verne“ Alexander Beljaew schrieb 1929 den Roman „Luftverkäufer“, in dem in Sibirien ein Engländer das Weltklima manipuliert und die Verknappung der Ressource Luft für sich als Geschäftsmodell entdeckt. Allein die Sowjetmacht kann ihn stoppen. Katassonow sieht derzeit einen Übergang von der „Epoche des zärtlichen Bösen“ zu einer neuen Periode des „grausamen Bösen“, womit die Schwabsche „globale Revolution“ durchgesetzt werden soll. Solchen belesenen Russen bleibt die Gleichschaltung der eigenen Regierung zu den globalen Projekten nicht verborgen.
Geopolitik vs. Demographie
Auffällig ist der Anteil von Naturwissenschaftlern und Ärzten in der dritten Gruppe. Der Physiker Sergej Sall (143.000) erscheint wie ein verrücktes Genie, aber liefert seit Jahren viele zutreffende Einschätzungen. Der Youtuber Pawel Iwanow (477.000) lässt regelmäßig den angesehenen Demographen und Arzt Igor Gundarow sprechen. Am 26.3. zu seiner These, daß viele führende Politiker schwer krank sind, unter Umständen sogar leprös. Am 11. März über die Chancen, den katastrophalen demographischen Trend zu stoppen: „Bei Fortführung des Trends bis 1990 wären wir heute 175 Millionen in Russland. Was ist wichtiger: die geopolitische oder die nationale, völkische Sicherheit? Österreich verschwand 1938 geopolitisch, aber überdauerte als Nation.“ Die Schriftstellerin Tatjana S. (die vor knapp 20 Jahren für den Moskauer Amadeus-Verlag, bei dem der Autor dieser Zeilen Cheflektor war, Romane schrieb) kommentiert die Videos von Iwanow: „Die Militäroperation hat so viele Probleme aufgedeckt: Korruption und Lügen sind buchstäblich überall und in allem und jedem. Dreißig Jahre absolute Lüge und Diebstahl. Das Volk fühlt sich betrogen und ausgeraubt. Um dies zu korrigieren, muß man praktisch alles von Grund auf neu gestalten.“
Schon ein Jahrhundert alt, aber immer noch aktuell ist der Einblick in die Abgründe und die Schönheit der russischen Seele durch den Pazifisten Stefan Zweig in „Drei Meister. Balzac, Dickens und Dostojewski“ aus dem Jahr 1919. Dostojewski weilte während seines politischen Exils in Dresden. Ihm war jedoch nicht nach Völkerfreundschaft. Er wollte nur eines: zurück in die Heimat. Asylbewerberleistungen gab es damals nicht.
Polarität aus Verdrängung
Die Hoffnung auf einen guten Part im globalen Machtspiel ist überall gleichermaßen anzutreffen. Wie die meisten Deutschen entweder auf die gute Macht „Westen“ oder aus Dissidentensicht auf die gute Macht „Osten“ setzen, hoffen die meisten Russen und Ukrainer, auf diejenige Seite im Krieg zu setzen, die sich später als gerecht und gut erweisen wird. Der sibirische Schriftsteller Viktor Astafjew schrieb in den 1990ern den Roman „Verfluchte und Getötete“, in dem er kein gerades Haar an der sowjetischen Kriegsführung ließ. Das wird ihm bis heute übelgenommen. Die eigene Kriegsführung kann nur gerecht und rein defensiv sein. Das ist der Fluch des literarischen Genies des russischen Volkes. Es gibt im Russischen zwei Worte für Wahrheit: In „Istina“ klingt das So-Sein mit, in „Prawda“ das Sein-Sollen. Um die kalte Wahrheit zu ertragen, wird ihr das Ideal der Gerechtigkeit beigemengt. Und so liegt auf dem Weg zu einem gerechten Frieden der „gerechte Krieg“. Oder wieder einmal eine „gerechte Revolution“? Dann aber bitte ohne die Assistenz von Berlin und der Wallstreet!
Erschien in der 10. Ausgabe des WALNUSSblatt-Magazins
Das Magazin mit dem Artikel von Jochen Stappenbeck („Schwan, Hecht und Krebs“) können Sie hier als PDF-Datei kostenlos lesen und herunterladen: