Kann Bildung auch ohne Schule gelingen?

Online veröffentlicht am 11. Juni 2024

Autoren: Svenja Herget

Ja, behauptet die Sonderschul- und Waldorflehrerin Svenja Herget.

„Bitte, bitte Mama! Ich kann nicht mehr! Ich will einfach nicht mehr! Ich halte das keinen Tag länger mehr aus.” – „Ja was denn???” – „Die SCHULE, Mama! – ICH HABE ANGST.”

Das sind die Worte des 11-jährigen Moritz, der oft tagelang nicht mehr aus dem Bett herauskam als er noch zur Schule mußte. Ständig hatte er Bauchschmerzen und häufig mußte er sich übergeben. Die Symptome hörten schlagartig auf, als seine Mutter ihn ab dem Sommer 2020 einfach zuhause bleiben ließ. Er mußte nicht mehr zur Schule gehen. Seine Mutter stellte sich hinter ihn und nahm die nun folgenden unangenehmen Gespräche mit den Schulbehörden und dem Jugendamt in Kauf. Die Gesundheit und die Freude ihres Sohnes waren ihr wichtiger.

Moritz blühte auf. Von nun an war er ständig in Haus und Hof unterwegs. Er reparierte Fahrräder, schnitt seinem 2-jährigen Bruder die Haare, angelte und vieles mehr. Die meiste Zeit allerdings verbrachte er in der Küche. Dort kochte er und probierte die Rezepte des Kochbuchs seiner Mutter aus. Er entdeckte seine Freude am Backen und erfreute die Familie mit selbstgebackenen Kuchen, Torten und Broten. Später durfte er sogar ein Praktikum bei einer örtlichen Tortenmanufaktur machen und erhielt dort großes Lob.

Inzwischen ist Moritz seit über drei Jahren zuhause. Er, dem das Lesen und Schreiben früher große Mühe bereitet hatte, hat eine Lehrerin gefunden, die ihm zweimal pro Woche online Einzelunterricht gibt. Mit ihr lernt er gern und macht nun auch im Lesen, Schreiben und Rechnen große Fortschritte.

So wie Moritz geht es vielen Kindern. Es gibt hunderttausende Schulschwänzer und Schulverweigerer in Deutschland! Warum zieht man für diese nicht alternative Bildungsmodelle in Betracht? Warum müssen Eltern, deren Kinder deutlich „Nein“ zum Schulbesuch sagen, neben der alltäglichen zusätzlichen Arbeit, die ein häusliches Lernen mit sich bringt, auch noch Auseinandersetzungen mit Schul- und Jugendamt und oft sehr unangenehme Gerichtsverhandlungen auf sich nehmen? Warum droht man ihnen mit Kindesentzug, wenn sie doch nur die Gesundheit und das Wohl ihres Kindes, also das Kindeswohl, im Blick haben?

Viele Lehrer verlassen in dieser Zeit den Schuldienst. Sie wollen und können diesem System nicht mehr dienen, das die Bedürfnisse eines jeden einzelnen Kindes aus dem Blick verloren hat. Besonders deutlich wurde dies während der Zeit, in der den Kindern und Jugendlichen in ihren Schulen Corona-Maßnahmen wie Masken- und Testpflicht auferlegt wurden. Wie viele tausende Schüler wurden gemobbt, weil sie keine Maske tragen konnten? Wie viele zehn- oder hunderttausende Schüler haben unter der Maske gelitten? Wie viele Schüler froren, weil ihre Lehrer dauernd lüfteten?

Ich habe im Sommer 2020 die Initiative „Homeschooling wagen“ gegründet, mit der ich Eltern Mut machen wollte: „Wagt es! Traut euch! Laßt eure Kinder zuhause! Ich bin Lehrerin und ich helfe euch bei der häuslichen Bildung eurer Kinder.”

Ich war nicht die einzige. Der österreichische Zauberer und Gedächtnistrainer Ricardo Leppe, der Bundesverband Natürlich Lernen e.V., Dagmar Neubronner und viele andere unterstützten die Eltern, welche die Zeiten nutzten, in denen die Präsenzpflicht ausgesetzt wurde, oder die Testungen verweigerten. Manche Eltern gründeten Lerngruppen, andere lernten mit ihren Kindern zuhause nach Materialien, die ihnen ihre Lehrerin zur Verfügung stellte. Wieder andere ließen ihre Kinder ganz nach Interesse frei lernen.

Auf meine Anfrage erklärten sich neun Mütter, ein Vater und eine Jugendliche bereit, ihre Geschichte während dieser Zeit für mich aufzuschreiben. Immer wieder hielt ich mit ihnen Rücksprache, um einzelne Punkte noch anschaulicher zu beschreiben und deutlicher herauszustellen, die die jeweilige Familie kennzeichnete. So gelang es uns, ein vielfältiges Bild von elf Kindern und Jugendlichen entstehen zu lassen, die in jener Zeit zuhause lernten und es teilweise bis jetzt noch tun. Die jüngsten von ihnen wurden damals eingeschult, die ältesten bereiteten sich auf einen externen Schulabschluß vor.

„Bildung ohne Schule kann gelingen“ – das ist die Erfahrung von tausenden Familien. Natürlich sollen nicht alle Kinder nun zuhause lernen. Doch wenn man das für diejenigen Familien zulassen würde, die das leisten können und wollen, wäre es nicht nur ein Segen für die betroffenen Kinder, sondern auch eine enorme Entlastung für die Schulen. Die dortigen Lehrer und Lehrerinnen könnten sich um ihre Schüler besser kümmern. Besonders hochbegabte, hochsensible, depressive, hyperaktive und andere Kinder und Jugendliche, die lieber zuhause lernen wollen, könnten dies tun und ihre Eltern könnten ihre Kraft darauf verwenden, selbst etwas vorzubereiten bzw. Kurse, Privatlehrer oder anderes zu finden und ihre Kinder dorthin zu bringen. Sie müßten dann nicht mehr Verstecken spielen, damit Nachbarn nicht bemerken, daß die Kinder keine Schule besuchen und dies in vorauseilendem Gehorsam den Behörden melden.

Aber wie soll ein Jugendlicher, der keine Schule besucht, einen Abschluß machen? Versperrt man ihm nicht die Zukunft? In meinem Buch zeige ich verschiedene Wege auf, wie Jugendliche auch ohne vorherigen Schulbesuch einen externen Abschluß machen bzw. auch ohne Abschluß eine Berufsausbildung beginnen können. Denn in Deutschland haben anerkannte Ausbildungsberufe eigentlich keine Voraussetzungen. Dies liegt in der Hand eines jeden einzelnen Ausbildungsbetriebs. Bei dem heutigen Fachkräftemangel dürften viele Ausbildungsbetriebe heilfroh sein, motivierte und interessierte junge Auszubildende zu finden. Die Lust am Lernen ist sehr vielen Jugendlichen durch die Schule verdorben worden – dabei ist das doch das Allerwichtigste! Nur Berufsfachschulen haben für die Aufnahme die Voraussetzung eines Schulabschlusses, da sie eine schulische Ausbildung anbieten. Wer allerdings eine 2- oder 3-jährige berufliche Ausbildung abgeschlossen hat, erhält in Deutschland jeweils den nächsthöheren erreichten Schulabschluß.

Wer also ohne Abschluß die Ausbildung zum Gärtner macht, erhält mit dem Ausbildungszeugnis den Hauptschulabschluß. Mit diesem Abschluß kann er die Karriereleiter nach oben steigen.

Angesichts der abstrakten Lerninhalte in Gymnasien, von welchen die allermeisten Jugendlichen den größten Teil schnell wieder vergessen (ein Phänomen, das man auch mit dem häßlichen Namen „Bulimielernen“ bezeichnet), kann man dem hochgepriesenen Abitur getrost einen Zacken aus der Krone nehmen. Die angehenden Habsburger Kaiser erlernten übrigens jeweils ein Handwerk – sie waren sich dafür nicht zu schade.

Vielleicht sollten wir in unserer Gesellschaft hier neu denken und handwerklichen Berufsausbildungen wieder einen größeren Wert zubilligen.

Erschien in der 12. Ausgabe des WALNUSSblatt-Magazins

Das Magazin mit dem Artikel von Bianca Höltje („Kindheit, Schule und die Welt verbessern“) können Sie hier als PDF-Datei kostenlos lesen und herunterladen:

Das WALNUSSblatt – Magazin für Geist, Herz und Verstand, erscheint vier Mal im Jahr und kann einzeln bestellt oder abonniert werden:


Über die Autorin

Svenja Herget, Mutter, Sonderschul- und Waldorflehrerin, gründete 2020 die Initiative „Homeschooling wagen“ und begleitet seitdem Eltern beim häuslichen Lernen mit ihren Kindern. Ihre Erfahrung hat sie nun in dem Buch „Bildung ohne Schule kann gelingen – Familien finden durch die Krise zum selbstbestimmten Lernen“ zusammengefaßt. Es ist im Buchhandel und über die Autorin bestellbar.

www.homeschooling-wagen.org


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